»Der Stillstand schenkt uns einen Denkraum« - Svenja Flaßpöhler

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Liebe Freundinnen und Freunde von LOGOI,

wir hoffen, Sie alle sind gesund und melden uns zunächst mit »Anmerkungen zum Thema unserer Tage« von Jürgen Kippenhan:

„Der Übergang von gesunder zu krankhafter Angst ist fließend.“ So ist es in einer Studie zur Angstdisposition des Menschen zu lesen. Der zitierte Satz zeigt aber auch an, dass es Zwischenstufen gibt und das Ringen darum, wann eine Angst angemessen und wann sie übertrieben ist. Wie jeder weiß, geht es dabei nicht immer um Leben und Tod. Ängste können sich auf sehr subtile Umstände beziehen, zum Beispiel auf projizierte Schamgefühle. Auch Ungewissheit ist eine höchst geeignete Projektionsfläche für Ängste. Wie es aussieht, ist der Mensch das einzige Wesen, das bedeutungsschwer seine Zukunft ins Auge fasst und dabei unentwegt Ungewissheit verarbeiten muss. Zu vermuten ist auch, dass dies einen großen Teil unserer psychischen Energie und Verarbeitungskraft verbraucht. Anders gesagt: wir sind unentwegt - wenn auch meist unbewusst – damit beschäftigt, Situationen daraufhin zu betrachten, was kommen könnte und wie wir dies aushalten und händeln könnten.

In gewisser Hinsicht ist deswegen der gegenwärtige Alarmzustand unser „Normalzustand“, an dessen Zuspitzung wir aber - uns selbst erfahrend - einiges ablesen können. Die Frage wird sein, ob es gelingt, in Form unverstellter Selbstbesinnung zu sich zu kommen, anstatt in einen alles überspielenden Aktionismus zu verfallen. Es verwundert ja nicht, dass das Thema in den Medien alles andere überdeckt. Der dadurch erzeugte Wirbel mit seinen ständigen Wiederholungen und Aufpeitschungen verspielt aber die Chance auf ein unabgelenktes Einlassen auf die existentiellen Gehalte, die derartige Krisenerfahrungen in sich bergen (nicht pastoral gemeint). Zu vermuten ist allerdings, dass es sich so verhalten wird wie beim Vorbeifahren an einem Unfall auf der Autobahn: erst ist man erschrocken und fährt langsam, dann verschwimmen die Erinnerungen und man gibt wieder Gas. Was aber könnte es sein, was sich – gegen alle Befürchtungen – den Nachdenklichen eingräbt?

Kurz: So wie das Virus nicht an irgendeiner Grenze halt macht , so sollte es auch die Hilfsbereitschaft im internationalen Maßstab nicht tun. Wir ahnen, dass es Afrika und die sogenannte „dritte Welt“ hart treffen wird.

Dann: Wie der Soziologe Hartmut Rosa nachvollziehbar feststellte, lässt sich die Wirtschaftsweise der modernen Welt nur durch ständige Steigerung ihrer Dynamik aufrecht erhalten. Dies macht sie für Einbrüche extrem anfällig, wie die Finanzkrise um 2008 und die Daten dieser Tage zeigen. Hinzu kommt, dass diese Anfälligkeit nicht mehr regional beschränkbar ist und damit die Existenzgrundlagen der Menschheit bedroht.

Dann: Durch viele Wiederholungen ist es zwar zu einem Klischee verkommen, aber – wie der Philosoph Jean-Paul Sartre nach dem zweiten Weltkrieg festhielt –: Krisen geben den Menschen die Chance, ihr persönliches und politisches Leben radikal neu zu bestimmen. Auch weniger radikal wäre für manche schon ein großer Schritt. Und dies schon dann, wenn man sich ein Stück aus dem Zwangsgetriebe löste, in das man oft eingefangen ist.

Und: Die moderne Gesellschaft erzeugt unentwegt Ablenkungen und zwanghaft fröhliche Eventmuster, die geeignet sind, die eigene Verletzlichkeit zu überspielen. Wie vordergründig dies wirkt, spüren wir in Bedrohungslagen.

Dieser Tage weiteres mehr...

Darüber hinaus haben wir uns in den letzten Tagen im Internet umgesehen und für Sie ein paar philosophische Gedanken zur aktuellen Situation eingefangen:

Svenja Flaßpöhler, Chefredakteurin des Philosophie Magazin (Sie erinnern sich vielleicht an ihre Beiträge bei LOGOI - zuletzt ihre Lesung im Rahmen unseres Programms »Laut Denken« im letzten Jahr), sieht den aktuellen Stillstand als Chance. Sie betrachtet ihn als eine Möglichkeit, aus der Endlosschleife des Konsums auszubrechen und Gesellschaft neu zu denken. Lesen Sie hier das gesamte Interview mit der Philosophin aus ihrem Schrebergarten »Der Stillstand schenkt uns einen Denkraum«.

Seit der Corona-Krise ist Albert Camus' Roman »Die Pest« ein regelrechter Bestseller geworden - Parallelen und ein Aufruf zu mehr Solidarität zeigt dieser Beitrag in der 3sat Mediathek: »Die Pest« von Albert Camus. Der Schriftsteller und Präsident der Albert Camus Gesellschaft, Sebastian Ybbs, widerspricht dieser Analogie und sieht den derzeitigen "Pest-Hype" kritisch - lesen Sie seinen Beitrag weiter unten im Newsletter.

Das philosophische Radio mit Jürgen Wiebicke fragt: »Miteinander - wie verändert Corona Ihr Denken?«, Studiogast ist die Medizinethikerin Dr. Christiane Woopen.

Und zuletzt noch ein virtueller Veranstaltungshinweis: Unter diesem Link können Sie täglich von 17-20 Uhr den Livestream aus dem LOGOI von Shahin Tivay Sadatolhosseini anschauen, der sein neues Projekt »RollWest« symbolisch gestartet hat.

Wir verbleiben mit der ausdrücklichen Bitte: Bleiben Sie gesund und insbesondere munter! Auf bald – herzliche Grüße

Ihr und Euer LOGOI-Team
Jürgen Kippenhan, Ines Finkeldei und Stefanie Schlößer


Sebastian Ybbs:
Corona ist nicht Die Pest

Es ist ganz natürlich, dass, wenn wir etwas Neuem begegnen, wir nach uns bekannten Erklärungsmustern suchen oder nach Verweisen, die uns das, was da auf uns zukommt, besser begreifbar machen. Viele Menschen besinnen sich in diesen Tagen auf Albert Camus’ Die Pest und ziehen das Buch wieder aus ihrem Regal hervor. Bereits als die Corona-Epidemie noch hauptsächlich nur in Wuhan grassierte, bin ich schon auf die Vergleichbarkeit angesprochen worden und ich muss zugeben: auch ich hatte nach den ersten Meldungen über eine Abriegelung der chinesischen Stadt an diesen Roman gedacht, den Camus zwar im Spiegel seiner Epoche geschriebenen hat, der dennoch zu einem zeitlosen Prosastück avanciert ist.

Den “Pest“-Hype, der momentan um sich greift, kann ich zwar verstehen, aber nicht ganz teilen. Die Romane werden verkauft wie warme Semmeln, Medienberichte bemühen sich - mäßig gelungen - um Verknüpfungen zwischen Camus’ Fiktion und unserer derzeitigen Lage. Doch hilft uns dieser Roman derzeit, besser zu begreifen?

Welche Beziehung besteht wirklich zwischen der Pest und von Camus geschilderten fiktiven Begebenheiten in Oran einerseits und andererseits dem, was die zwischenzeitlich zur Pandemie ausgeweitete Corona-Seuche bewirkt?

Im Gegensatz zum Corona-Virus wird die Pest durch Bakterien ausgelöst. Flöhe nutzen Nagetiere als Reservoir und übertragen den Pest-Erreger auf Menschen. Innere Organe werden befallen, Lymphdrüsen schwellen an und werden als Verdickung ertastbar oder sichtbar (Beulenpest). Erst durch die sekundäre Wirkung dieser Erkrankung wird, ähnlich, wie es sich mit dem Corona-Virus verhält, der Mensch selbst durch Tröpfcheninfektion zum Überträger, es entsteht vermehrt die Lungenpest.

So sind es auch im Camus’ Roman zuerst die Ratten, die als Bedrohung aufgefasst werden, bevor die befürchtete Lungenpest ihre Verbreitung findet und die Menschen verdächtig werden. Damit die Seuche nicht nach Außen dringt, wird die Stadt Oran hermetisch abgeriegelt und wir erfahren nichts mehr von dem, was

außerhalb stattfindet. Die Pest ist eine Innenansicht. Für die meisten von uns hingegen ist nicht eindeutig, ob wir ein Teil der Corona-Seuche sind, oder sie von Außen betrachten. Selbst wenn wir nicht erkrankt sind, sind wir mittendrin und können die Ereignisse über die Medien von Außerhalb mitverfolgen.

Camus hat seinen Roman nicht über die Pest als Krankheit geschrieben, sie diente ihm als Hintergrund, vielleicht auch als Metapher. Er hat sein Augenmerk vor allem auf die handelnden Personen gerichtet, die verschiedenen Charaktere und dargelegt, auf welch unterschiedliche Weise sie sich in dieser Ausnahmesituation verhalten. Die Deuter sind sich einig: Die Pest ist ein Buch über die Solidarität. Doch hat der gemeinschaftliche Zusammenhalt angesichts der Corona-Krise eine höhere Aktualität als zu anderen Zeiten?

Heute zeigen sich in unserer Gesellschaft besonders deutlich gewisse Wesenszüge, die im Prinzip nicht neu sind: Viele Menschen haben sich spontan und ohne Anstoß von Außen zu solidarischen Handlungen entschieden, andere besinnen sich eher auf ihren egozentrisch motivierten Klopapier-Komplex. Natürlich ist das eine Schwarz-Weiß-Malerei - die meisten von uns werden sich irgendwo dazwischen bewegen. Doch braucht man eine Corona-Krise, um solche unterschiedlichen Charakterbilder zu zeichnen und muss man Die Pest lesen, um eine Anleitung zum solidarischen Verhalten zu bekommen? Waren wir nicht immer schon gefordert?

Na gut, es fühlt sich momentan anders an, weil eine Krise so nah an den eigenen Leib gerückt ist. Doch sind wir etwa weniger betroffen, wenn weit entfernt Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken oder wir den Menschen, die dem syrischen Krieg entkommen sind, das Asylrecht nicht gewähren?

Fast unbemerkt entsteht plötzlich ein Wir- und Ihr-Denken, das, wenn man uns offen befragt hätte, wir doch immer abgelehnt hätten. Kann man das Solidarität nennen, wenn man sie nur in Zeiten ausübt, in denen es einem selber gut geht oder müssen wir nicht ganz besonders jetzt an die denken, die irgendwo auf der Welt in Hunger und Elend leben?

Es ist nicht der Staatsapparat alleine, der zum Menschenrecht verpflichtet ist, wir sind es alle, als Gemeinschaft und jeder für sich. Und da bin ich wieder bei Albert Camus angelangt. Es ist der Arzt Dr. Rieux, der nicht bloß aus seinem Berufsethos sondern in erster Linie aus einem ganz persönlichen Bedürfnis heraus hilft, wohlwissend, dass er sein eigenes Leben aufs Spiel setzt. Ihm schließen sich andere an, zum Schluss sogar Pater Paneloux, der die Seuche zunächst als Strafe Gottes proklamiert hatte und erst spät zu einer anderen Einsicht gelangte.

In meinem privaten Umfeld kenne ich Ärzte, die ganz selbstverständlich Sonderdienste geleistet und sich dabei vermutlich mit dem Corona-Virus infiziert haben. Dieselben Personen haben sich immer schon für das interessiert, was anderen Menschen irgendwo auf der Welt an Unrecht widerfährt und überlegt, auf welche Weise sie denen helfen können. Sie tun das nicht, um sich aufzuopfern, es ist ihre Art, glücklich zu sein: eben nicht alleine glücklich sein.

Was Solidarität heißt, darüber können wir an vielen anderen Stellen in Camus´ Werk lesen und werden dabei die Zerrissenheit erkennen, der sich die Protagonisten ausgesetzt sehen: Der Gast, in dem sich der Lehrer Daru zugunsten des ihm Anvertrauten gegen die herrschenden Vorschriften auflehnt, oder die für ihr Recht auf faire Bezahlung Streikenden in Die Stummen, die sich am Ende einem größeren Leid gegenübergestellt sehen, nicht zuletzt der Rechtsanwalt in Der Fall, der in seiner eigenen Selbstgefälligkeit erstarrt, statt einer Ertrinkenden zu Hilfe zu kommen. Das sind Beispiele, die keine Seuche benötigen und doch aufzeigen, wie man zwischen den eigenen Bedürfnissen und dem Anliegen, für andere da zu sein, schwankt. Und es sind Texte, die uns keine Moral aufdrängen, sondern zu einer Auseinandersetzung auffordern.

Mein Fazit lautet: Ja, es lohnt sich, die Pest zu lesen, denn es hat sich schon immer gelohnt.

Sebastian Ybbs, März 2020

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