Heute im Livestream: RollWest mit einem Online-Konzert von Sanaz und Wolfgang Becker im Gespräch mit Shahin Tivay Sadatolhosseini

eule.PNG

Liebe Freundinnen und Freunde von LOGOI,

wir hoffen, Sie alle sind wohlauf und melden uns heute mit einer herzlichen Einladung:

Im täglichen Livestream zum Kunstprojekt »RollWest« von Shahin Tivay Sadatolhosseini im LOGOI gibt die iranische Sängerin Sanaz Zaresani heute um 17:30 Uhr online ein kleines Livekonzert und der Künstler wird ein Gespräch mit Prof. Wolfgang Becker aufzeichnen, dessen Text zum Projekt Sie unter dem Titel »Das Rhönrad« weiter unten im Newsletter finden.

Unter diesem Link können Sie mithören und Shahin Tivay Sadatolhosseini täglich von 17-20 Uhr auf seiner »RollWest«-Tour begleiten.

Eine erste Hörprobe zum Konzert gibt es hier...

Darüberhinaus senden wir Ihnen »Philosophisches zur aktuellen Lage« von Mechthild Geisbe mit erkenntnisreichen Einsichten und Gedankenanstößen.

Wir wünschen Ihnen ein paar ruhige Ostertage und melden uns danach mit einer neuen philosophischen Post. Bleiben Sie gesund und munter! Auf bald – herzliche Grüße

Ihr und Euer LOGOI-Team

Jürgen Kippenhan, Ines Finkeldei und Stefanie Schlößer


Wolfgang Becker zum Kunstprojekt RollWest von Shahin Tivay Sadatolhosseini:

D A S R H Ö N R A D

Warum hat dieser Junge Otto Feick vor 120 Jahren zwei Räder in der Pfalz einen Berg hinuntergerollt? War er allein? Hatte er Bilder der Feuerräder gesehen, die an vielen Orten in Europa, auch in Lügde in Westfalen (das durch seinen Campingplatz in Elbrinxen in schlechten Ruf geraten ist) zu Ostern brennend die Hügel hinabrollen, um den Winter zu vertreiben? Oder war er fasziniert von seiner Erfindung des Doppelrades, das nicht umkippen würde? Er war Handwerker und baute seine Erfindung und ihren Erfolg als weithin beliebtes Sportgerät, das Rhönrad, aus – und der Deutsch-Iraner Shahin Tivay Sadatolhosseini lernte es in Aachen kennen, gründete einen Turnverein in der RWTH und stellt es nun analog und digital in der Philosophenwerkstatt LOGOI in der Jakobstraße aus.

Solche Laufräder bedrücken in Rattenkäfigen, beglücken in Wassermühlen und begeistern in Zirkuszelten, wenn ölglänzende Akrobaten darin kreisen. In Bildern zeigen Räder symbolische Menschen und Götter/ Göttinnen vieler Kulturen. Shahin enttäuscht mich, den Historiker, weil ihn diese Dimension nicht interessiert. Ihn fasziniert die Bewegung des Rades, der Anstoß, das Rollen im Anlauf und Auslauf, der Stillstand, die Wiederholung; die Verlängerung der Zeit des Rollens durch Gewichte: ein leichtes, ein schweres Gepäckstück. Ihn hat es zum LANGSAMEN REISEN eingeladen. Er ist damit bis Teheran gelangt, seiner Geburtsstadt, und er wird damit nach Washington reisen. Und wer Sten Nadolnys "ENTDECKUNG DER LANGSAMKEIT" gelesen hat, wird verstehen, dass nicht ein Fahrrad, nicht ein Esel, sondern ein Rhönrad der ideale Begleiter des Wanderers ist: ein guter Gepäckträger, Stütze der Hängematte in der Nacht, Aufsehen erregend, einladend zu Gesprächen und delikat für visuelle Medien.

In der Neuen Galerie hat vor dem Sturz des Shahs 1977 ein junger Aachener Abenteurer aus einem Tagebuch öffentlich gelesen, der, besessen und berauscht, gebrauchte teure deutsche Autos in den Iran fuhr und Käufern ablieferte. Er hüllte die Reisebegegnungen in eine Poesie zwischen Ginsberg, Ferlinghetti und Brinkmann – und füllte seine jungen Zuhörer mit den Bildern des UNTERWEGSSEINS und des Abenteuers. Shahins Berichte sind dagegen temperiert in die langsame Bewegung des Laufrades und die freundlichen Annäherungen der Einheimischen. Das Museum in Teheran lehnte es als Geschenk ab; das kostbare Kuckucksei, das die Shabanu dort gelegt hatte, die großartige Sammlung moderner Kunst des Westens, genügte. Unter dem Dach der Karawanserei Deyr Gachin hat das Rhönrad nach Abschluss der Tour einen dauerhaften Ehrenplatz erhalten.

Shahin suchte nicht die Einsamkeit auf seiner Reise, war nie der Gesellschaftsflüchtige, liebte das UNTERWEGS als Begegnung, Grenzüberschreitung, Abwechslung zwischen Freund und Feind, Sesshaftigkeit und Unruhe. Er hat sein Geburtsland gesucht, aber bald wieder verlassen, um nach Aachen zurückzukehren und eine 2. Reise vorzubereiten – in den Westen, nach Amerika, das alte Traumland der Europäer, das sich so seltsam verändert hat.

Seit dem 20. 3, bewegt er sein Laufrad im LOGOI täglich von 17-20 Uhr und kommentiert seine bevorstehende Reise in die USA online https://www.twitch.tv/rollwest/videos

Wolfgang Becker, März 2020
(Den Artikel finden Sie online auch auf seiner Homepage Kunstwechsel - ein Raum für Künstler).


Philosophisches zur aktuellen Lage

Kant oder Utilitarismus kann man dieser Tage angesichts der ethischen Probleme fragen, die Corona mit sich bringt. Ist es zynisch zu überlegen, ob die relativ geringe Zahl an Toten in Deutschland auch unserer philosophischen Tradition zu verdanken ist? Das Leben ist nicht verhandelbar. Eine doch recht frühe Durchsetzung von Maßnahmen stellt wirtschaftliche Interessen in den Hintergrund, das im Vergleich konsequente Testen in Deutschland beruht auf einem sozialer ausgerichteten Gesundheitssystem als andernorts. Der Mensch sollte nie nur als Mittel zum Zweck gesehen werden, sondern immer auch als ein autonomes Wesen, was selber Zwecke setzen kann. Deshalb hat er keinen Preis. Kant verträgt sich nicht mit den Marktgesetzen und sein Geist setzt sie momentan etwas außer Kraft. Er ist zwar ein schlechter Ratgeber, wenn Krisenzeiten konkrete Entscheidungen fordern und die Frage nach dem Umgang mit knappen Beatmungsgeräten dürfte deshalb beim Utilitarismus besser aufgehoben sein, aber Zeitpunkt und verantwortbares Ausmaß einer Lockerung von Maßnahmen sind sicherlich nicht ausschließlich auf utilitaristischem Wege zu finden.

Der eher neoliberale Macron machte umdenkend darauf aufmerksam, dass wir in einigen Bereichen die Kontrolle zurückgewinnen müssen, sprich sie nicht dem Marktgeschehen überlassen dürfen. Dazu zählte er allen voran natürlich die Gesundheit. Recht hat er! Diese Erkenntnis ist aber so richtig, wie nicht neu. Die Thematisierung des Marktes in seiner ethischen Fragwürdigkeit flammt stets in Krisen auf und ebbt mit ihrem Ende wieder ab, sodass man annehmen darf, es handelt sich bei solcherart Statements mehr um ein Lippenbekenntnis, denn um eine ernsthafte Absicht, etwas in die Tat umsetzten zu wollen. Das Sich-Ereifern im Demonstrieren moralischer Werte wie Verantwortung und Solidarität greift aber nicht nur unter Politikern um sich. Gerne kommuniziert jetzt auch das gemeine Volk seine moralische Integrität, nutzt die Gelegenheit zur konformen Darstellung einer vorbildlichen Gesinnung. Die Gesellschaft vergewissert sich ihres Zusammenhalts. Daran ist nichts grundsätzlich falsch, aber es ist auch eben nicht das, was es zu sein vorgibt. Es ist nicht mehr und nicht weniger als eine Äußerung moralischer Einsichten in Form eines Versuchs sich über jahrelange Kompromisse hinwegzutäuschen. Sind wir nicht doch alle „gut“? Die Vehemenz der Vergewisserung steht im unmittelbaren Verhältnis einer verdrängten Schuld. Und so treibt die Selbstimagination groteske Blüten im Lobgesang auf die Kassiererin. Wer die Bedeutung ihrer gesellschaftlichen Leistung anerkennt, der kann doch kein schlechter Mensch sein.

Kants gutem Willen ist das schlechte Gewissen als Motiv suspekt, vom Gesinnungsexhibitionismus erst gar nicht zu sprechen. Aber gibt es einen Willen, der keine andere Anbindung hat als das moralische Gesetz als solches, einen leeren Willen, der das Gute verfolgt, ohne zu bestimmen, was dieses sei, sich nichts als die reine Form des kategorischen Imperativs zu eigen macht? Coronale Zeiten zwingen zur Selbstwahrnehmung ohne äußere Impulse, coronale Meditationen vielleicht zum „Cogito“. Dem Philosophen Žižek nach haben Frauen je schon einen intuitiven Bezug dazu. Sie sind im Vorteil sich über einen Mangel zu bestimmen, der sie die Substanzlosigkeit menschlicher Existenz in all ihren Entwürfen ahnen lässt. Wer sich schminkt, weiß um Maskeraden, Männer glauben zu sein, was sie darstellen. Kontaktsperre macht den Spiegel deshalb für Frauen etwas eher zur Emanzipation von Selbstzuschreibungen. Mit den Momenten leeren Bewusstseins wächst die Distanz zum Selbstentwurf. Der gute Wille ist ein Korrektiv, die Bereitschaft zur Abstraktion von uns selbst. Er ist die Selbstverpflichtung eines Daseins, das sich als zur Freiheit verurteilt begreift. Positiv ausgedrückt, er ist die Selbstverpflichtung zur Möglichkeit.

Bei allem Lob, was unserem Staat gebührt, weil er wirtschaftliche Interessen dem Leben unterordnet - eine Verhandelbarkeit des Lebens meint mehr als nur die leibliche Unversehrtheit. Es geht um Anerkennung eines Potentials, das nicht in wirtschaftlicher Funktionalität aufgeht. Dessen volles Ausmaß an Kreativität lässt sich überhaupt nur ohne vereinnahmende Bezüge denken und würdigen. Der gute Wille ist haltlos. Er braucht mehr Bereitschaft zum Risiko und weniger Narzissmus. Solidaritätsbekundungen als Absolution vom unguten Gefühl einer totalen Verstrickung in ökonomische Abhängigkeiten sind kompensatorisches Manöver. Sie werden keine verändernde Kraft aufbringen, sondern sich unkritisch einbinden lassen in das Mitwirken am wirtschaftlichen Aufschwung - „Wir schaffen das!“

Mechthild Geisbe
Straelen, März 2020

PostLOGOI